Die Transformation einer Pandemie

von Markus v. Riederberg

Wir haben es nun bereits unzählige Male gehört: «Die Pandemie ist zu Ende», «Licht am Ende des Tunnels», «in der Endemie angelangt». Aus mehr oder weniger berufenem Mund, in mehr oder weniger angesehenen Medien. Ich spreche nicht von den notorisch falsch liegenden und verharmlosenden Streeck und Stöhr. Christian Althaus, Epidemiologe an der Uni Bern, fragte vor einer Woche auf Mastodon

«Could we just agree that the #pandemic is technically over, and that we now have a serious chronic #publichealth problem with a new endemic respiratory virus that leads to substantial morbidity (e.g., #LongCOVID) and (long-term) mortality (e.g., increased risk of #cardiovascular disease)?»

Immerhin erwähnt er LongCovid und auch das erhöhte kardiovaskuläre Risiko nach einer Covid-Infektion. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Ich frage mich, was er denn mit «technically over» eigentlich meint. Mit Endemie bezeichnet man eine Krankheit, die in einer bestimmten Region ständig vorhanden ist und deren Verbreitung vorhersagbar ist, weil die Ausbreitung statisch bleibt. Auch eine endemische, von einem Virus ausgelöste Krankheit kann zuweilen Ausbrüche in Form einer Epidemie haben. Und Endemie bedeutet keinesfalls harmlos [Katzourakis 2022]. Ich denke, es ist – wieder einmal – Zeit für eine Standortbestimmung.

Es gibt viele Themenbereiche, die von Interesse sind: Die Evolution und Verbreitung des Virus, die vielen Facetten von Covid-19 (inklusive insbesondere LongCovid und Risiken für andere Erkrankungen), Therapie, Prävention, soziale und wirtschaftliche Folgen. Auch die Menge an wissenschaftlichen Publikationen zu diesen Themen ist inzwischen kaum noch zu überblicken – nur schon die National Library of Medicine verzeichnet aktuell über 300000 Publikationen zum Thema «Covid-19». Die hier getroffene Auswahl ist zugegebenermaßen subjektiv und ich beschränke mich auf Teilaspekte weniger Themen.

Auch wenn Behörden, Virolog:innen und sogenannte Expert:innen gerne von der hohen Immunität in der Bevölkerung sprechen (in der Schweiz liegt diese gemäß Bundesamt für Gesundheit bei über 97 %), dem Virus scheint das herzlich egal zu sein. Aktuell sind eine Vielzahl von leicht unterschiedlichen Varianten im Umlauf und die Infektionszahlen z. B. in Europa zeigen, dass man sich immer wieder infizieren kann. Reinfektionen sind keinesfalls selten, sondern der Normalfall. Wer sich nicht schützt, wird sich immer wieder mit neuen Varianten des Virus infizieren.

Unser Immunsystem ist ein komplexes Zusammenspiel von verschiedenen Abwehrzellen, die das Virus erkennen und dieses mit spezifisch gebildeten Antikörpern bzw. befallene Zellen direkt angreifen – und zerstören. Es ist letztlich ein Kampf zwischen unserem Immunsystem und dem Virus. Das Virus denkt nicht, handelt nicht überlegt. Es reproduziert sich in kurzer Zeit einfach stark – darin liegt seine Stärke. Seine Anpassung erfolgt über zufällig auftretende Mutationen – gibt eine infizierte Person die Viren weiter, werden sich diejenigen besonders gut durchsetzen, die (rein zufällig) einen Weg gefunden haben, sich vor der menschlichen Immunabwehr zu verstecken, oder diese zu stören. Beides gehört offenkundig zum «Arsenal» von SARS-CoV-2, insbesondere bei den neusten Varianten.

Mehr Infektionen = mehr Viren = mehr Replikation = mehr Mutation

Eine Infektion mit Omikron-Varianten führt offenbar nicht zu einer Bildung von vielen Omikron-spezifischen Antikörpern und T-Zellen [Reynolds 2022]. Die hohe Immunität, die zuletzt auch von Drosten wieder ins Feld geführt wurde, klingt zwar gut. Bringt aber wenig. Denn das Virus greift unser Immunsystem an. Unser Immunsystem verfügt auch über ein Gedächtnis in Form von spezifischen Zellen. Eine Infektion mit SARS-CoV-2 kann zur Erschöpfung von naiven T- und B-Zellen führen, weil das Virus in der Lage scheint, sich länger im Körper einzunisten (wie übrigens auch andere Viren, wie z.B. Herpes oder Epstein-Barr). Die ständige Aktivierung des Abwehrsystems führt dann zur Erschöpfung einzelner Anteile unseres Immunsystems [Doherty 2022]. Es scheint nicht vermessen, dies als wichtigen Faktor der starken RSV-Ausbrüche in Europa anzusehen – und nicht als Zeichen einer neu erfundenen und nicht belegten «Immunschuld» (siehe hier).

SARS-CoV-2 schädigt das Immunsystem.

Eine Infektion mit SARS-CoV-2 führt nicht zu einem stärkeren Immunsystem. Sie kann die Abwehr schwächen. Infektionen sollte man vermeiden. Während Drosten und seine Anhänger:innen betonen, dass dank Infektion eine gute Immunität bestehe, zeigen verschiedene Studien inzwischen, dass die mehrfache Infektion mit SARS-CoV-2 sowohl das Risiko von LongCovid erhöht, als auch das Risiko für verschiedenste Folgeekrankungen drastisch ansteigt. In einer groß angelegten Studie fanden Xu et al, dass das Risiko für neurologische Erkrankungen im Anschluss an eine Covid-Infektion deutlich erhöht sei [Xu 2022]. Das gleiche Team zeigte auch auf, dass die Impfung nicht vollständig vor LongCovid oder Folgeerkrankungen schützt, auch wenn das Risiko kleiner ist, als ohne vorangegangene Impfung [Al-Aly 2022].

Die Impfung schützt nur teilweise vor LongCovid und Folgeerkrankungen

Gerne wiederholen die sogenannten «Expert:innen», dass die Omikronvariante mild, eine Infektion mit diesem «Atemwegsvirus» deshalb problemlos sei. Es stimmt, das Virus trägt «schweres akutes Atemwegssyndrom» in seinem Namen. Dieses ist allerdings nicht problemlos, sondern verläuft mitunter tödlich. Und auch wenn der Name nur von Atemwegen spricht: Das Virus greift Zellen an, die über ACE2-Rezeptoren verfügen. Diese sind im Körper für die Regulation der Zirkulation wichtig und kommen darum vor allem in den Endothelien (Auskleidungen) der Blutgefäße gehäuft vor. Entsprechend führt eine Infektion in vielen Fällen zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Schädigung der Blutgefäße, vor allem der Kapillaren. Dies wird als eine wichtige Ursache für die starke Erhöhung des Risikos für Herzinfarkte durch Covid-Infektionen gesehen, die zu einer deutlich erhöhten Mortalität vor allem bei Jüngeren führt (bei Älteren ist dies nicht so ausgeprägt, weil diese sowieso häufiger an Kreislauferkrankungen leiden) [Yeo 2022].

SARS-CoV-2 erhöht das Herzinfarktrisiko v. a. bei Jüngeren

Was waren das noch für Zeiten, als in der Schweiz der Covid-19-Verantwortliche im Bundesamt für Gesundheit, Daniel Koch, behauptete, Kinder würden nicht erkranken und das Virus nicht übertragen, da ihnen die entsprechenden Rezeptoren fehlten. Die Ungefährlichkeit von Covid-19 für Kinder wurde gerne und oft wiederholt («Kinder sind nicht Treiber der Pandemie» (Koch), «Dene Chinde macht das nüüt» (Berger)) und es wurde immer wieder behauptet, Kinder würden viel stärker unter Maßnahmen (wie z. B. Tragen der Maske) leiden, als unter der Krankheit selbst – selbstverständlich, ohne diese Behauptung je zu belegen. Schwurbelnde und impfverweigernde Eltern und Lehrkräfte haben da offenbar ganze Arbeit geleistet. Fakt ist: Kinder erkranken sehr häufig und – das ist der springende Punkt – können auch bei milder, kaum wahrnehmbarer Infektion später an LongCovid erkranken. In einer großen Übersichtsarbeit, die andere Studien zusammenfasst und mit einbezieht, fanden Lopez-Leon et al. eine Prävalenz (Häufigkeit) von LongCovid von 25,2 % [Lopez-Leon 2022].

LongCovid ist häufig und tritt auch nach milder Infektion auf

Die Entwicklung der Pandemie verläuft in verschiedenen Regionen der Welt unterschiedlich. Während die Strategie in asiatischen Ländern eher darin besteht, die Zahl der Infektionen einzudämmen, ist man im Westen (insbesondere in Europa) dazu übergangen, dem Virus freie Hand zu lassen. Einschränkungen werden ausgeschlossen – als «rote Linie» wird z. B. in der Schweiz nur noch die Überlastung der Intensivstationen genannt. Dass die Überlastung der Spitäler nicht mehr in erster Linie durch die hohe Zahl der Covid-Patientinnen und -Patienten auf den Intensivstationen, sondern durch die vielen Ausfälle insbesondere des Pflegepersonals zustande kommt, wird großzügig ausgeblendet. Man versteckt sich gerne hinter technokratischen Maßnahmen wie «Aufstockung der Bettenzahl» – dass diese gar nicht betrieben werden können, weil das Personal fehlt? Egal. Das Pflegepersonal und in zunehmendem Maße auch ärztliches und paramedizinisches Personal muss immer öfter Dienste von Kolleginnen und Kollegen übernehmen, gefährdet die eigene Gesundheit, brennt aus. Schutz des Personals z. B. durch Maskenpflicht und konsequente Luftreinigung? Fehlanzeige. Mit jeder Infektion erhöht sich das Risiko, an LongCovid zu erkranken und/oder zu erkranken – ob kardiovaskulär, neurologisch, endokrin – der Möglichkeiten sind viele. Selbstverständlich werden diese Krankheiten, die häufiger werden, nicht als Covid-19-Folgen in die Statistiken aufgenommen – so dass die Medien sich mal wieder wundern dürfen: «Rätselhafte Zunahme von Herzinfarkten». Die Folge ist klar: Der Personalnotstand im Gesundheitswesen wird zunehmen. Weil immer mehr Personal gar nicht mehr in der Lage ist, diese belastende Arbeit auszuführen.

Das Ganze erinnert irgendwie an die Kurzgeschichte von Dürrenmatt «Der Tunnel», in der ein Zug in einem Tunnel immer schneller fährt, der Lokomotivführer ist längst abgesprungen, der Tunnel kein Ende nimmt und der Zug der Katastrophe entgegen rast. Am Ende fragt die Hauptfigur «Was sollen wir tun» – «Nichts.»

Die Pandemie hat sich gewandelt: Zu Beginn war es die Pandemie einer akuten, durch ein Virus ausgelösten Erkrankung, die vor allem bei vulnerablen und älteren Menschen schwer nicht selten tödlich verlief. Durch Schutzmaßnahmen (Masken, Kontaktbeschränkungen) versuchte man (ziemlich erfolgreich), die Zahl der Infektionen zu senken. Mit der Impfung, die (begrenzt) Schutz gegen schwere Verläufe, nicht aber vor Übertragung bietet, fühlten sich Gesundheitsbehörden darin bestärkt, die Beschränkungen zu lockern. Mit massiven Infektionszahlen als direkte Folge. Was dabei (noch immer) ausgeblendet wird: Damit steigt die Krankheitslast durch LongCovid und Folgeerkrankungen weiter an. Wir beobachten eine Transformation der Pandemie.

Die Transformation einer Pandemie der akuten Covid-Erkrankung hin zur Pandemie von LongCovid und Folgeerkrankungen.

Diese beiden Faktoren werden nicht nur das Gesundheits- und Sozialsystem zunehmend belasten, sondern auch den Arbeitsmarkt über viele Jahre hinaus massiv beeinflussen. Dies in einer durch die Klimakrise und den Krieg in der Ukraine schwierigen Zeit, in der faschistoid und/oder libertär geprägter Egoismus hoch im Kurs steht.

Die Tragik der aktuellen Situation besteht meines Erachtens darin, dass sehr viele Informationen zu den Folgen der Infektionen, den Risiken wiederholter Infektionen für die Gesundheit und das soziale System auf dem Tisch liegen. Gleichzeitig wären auch die Mittel bekannt, wie die Pandemie auch heute noch in den Griff zu kriegen wäre, nämlich mit einem einfachen Trio an Maßnahmen:

Maske in Innenräumen + saubere Luft + Impfung

Der Großteil der Bevölkerung schwimmt aber lieber brav im Strom der Desinformation mit, der von Behörden und Medien genährt wird. Man sitzt offenbar gerne im Zug von Dürrenmatt, der im Tunnel seiner Katastrophe entgegenfährt. Die Desinformation erscheint wie eine parallel verlaufende Pandemie: Ob Klimakrise, ob Krieg in Russland, ob Covid-Pandemie: Die Menge an Fehlinformationen hat ein Ausmaß angenommen, die für die Zukunft nichts gutes verheißt. Da passt bestens ins Bild, dass mit Twitter eine wichtige Informationsquelle neben den Print- und Bildmedien durch ihren neuen Chef offenbar auch Gleis gewechselt hat und unter lautem Hurra wieder aktivierter Konten von Hasspredigern weltweit in Richtung von Dürrenmatt's Tunnel fährt.

Es ist nicht nur eine Covid-19-Pandemie. Es ist auch eine Pandemie der Desinformation

Was bleibt? Wer sich zu schützen vermag, soll sich weiterhin so gut als möglich schützen. Jede Infektion mit Covid ist eine Infektion zu viel. FFP2 oder noch besser FFP3-Masken bieten einen guten Schutz, wenn man sich nicht zu lange in infektiöser Umgebung aufhält. Insbesondere in Schulen und in Büros müssen wir den Druck erhöhen, damit Maßnahmen für saubere Luft getroffen werden. Wer die Möglichkeit hat, soll seine Impfung auffrischen lassen. Und wir müssen insbesondere die Kinder so gut als möglich schützen.

Es ist nicht vorbei.

#Covid-19 #LongCovid #Impfung #Pflegenotstand #Desinformation

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